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(44) Kurt Tucholsky »Kreuzworträtsel«

9m · Lesung - Klassiker, Philosophie, Gedichte | Gelesen von Elisa Demonki · 29 Oct 22:08

Kreuzworträtsel mit Gewalt Der Arzt versank in meinem Bauch. Dann richtete er sich hochaufatmend wieder auf. »Es sind die Nerven, Herr Panter«, sagte er. »An den Organen ist nichts. Ruhe – Ausspannen – Massage – Rohkost – Gemüse – Gymnastik – kohlensaure Bäder … passen Sie auf: wir kriegen Sie schon wieder hoch. Schwester –!« Da saß ich in dem Klapskasten, und nun war es zu spät. (…) Das konnte heiter werden. Es wurde sehr heiter. Ich absolvierte täglich ein längeres Zirkusprogramm, von morgens um sieben bis mittags um halb eins. Der Turnlehrer; die Wiegeschwester; der Bademeister; der Masseur; der Assistenzarzt; die Zimmerschwester … sie alle waren emsig um mich bemüht. Ich kam mir recht krank vor, und wenn ich mir krank vorkam, dann schnauzten sie mich an, was mir wohl einfiele – es ginge mir schon viel, viel besser. Was war da zu machen? Was war vor allem an den langen Nachmittagen zu machen, die etwa acht- bis neunmal so lang waren wie die reichlich gefüllten Vormittage? Lesen. Das Salatorium – man sollte niemals: Sanatorium schreiben – das Salatorium hatte eine Bibliothek. Die ersten acht Tage ging das ganz gut, denn sie hatten da die ›Allgemeine Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens‹, eine Art Familienzeitschrift aus den neunziger Jahren – und so beruhigend! Darin war von der neuen, schreckeinflößenden Erfindung des Telefons die Rede; von einem Wagen, der sich vermittels einer Maschine allein bewegen konnte, einem sogenannten ›Automobil‹; vorn war ein Roman mit Bildern: »Agathe liebkoste die entblätterte Rose und ließ sich auch durch das Zureden des Assessors von Waldern nicht trösten … Seite 95« (…) . Dies beschäftigte mich acht Tage lang. Dann war es aus. (…) Was nun –? Eines Tages sah ich beim Bademeister auf dem Fensterbrett der Badekabine eine Rätselzeitschrift liegen. Ich hatte nie gewußt, dass es so etwas gäbe. Aber das gabs. Darin waren Silbenrätsel enthalten und andre schöne Zeitvertreibe. »Darf ich vielleicht … könnten Sie mir das wohl mal leihen … ?« fragte ich. Er lieh. Ich hatte kaum mein Müsli und den Salat und die halbe Pflaume gegessen, als ich auf mein Zimmer eilte, den Bleistift spitzte und löste. Ich verfüge über eine sehr lückenhafte Bildung. Ich weiß nicht, wo Karakorum liegt; ich weiß nicht, was eine ›Ephenide‹ ist; ich verwechsle immer ›Phänomenologie‹ mit ›Pharmazeutik‹, und es ist überhaupt ein Jammer. Aber ich begann zu lösen. Anfangs ging das ganz gut. Alles, was ich auf Anhieb wußte, schrieb ich in die kleinen Quadrate, und wenn ich nicht weiter konnte, ließ ich das angebissene Rätsel liegen und machte mich an das nächste. So hatte ich viele vergnügte Nachmittage. Der Bademeister brachte mir, trinkgeldlüstern, noch weitere achtzehn Rätselzeitschriften, aber tückischerweise hatten sie keinen Zusammenhang untereinander, denn es fehlten immer grade die Nummern, in denen die Lösungen jener enthalten waren, an denen ich grade knabberte … also mußte ich versuchen, allein damit fertig zu werden, und ich war ganz auf mich selber angewiesen. Ich habe das nicht gerne – wer auf mich gebaut hat, hat noch stets auf Sand gebaut. Aber ich löste. Als ich die Zeitschriften vollgemalt hatte, hatte ich fünf Kreuzworträtsel zu Ende gelöst. Alle andern – und es waren deren eine Menge – wiesen bedrohliche Flecke auf. Was nun? Nun zerbiß ich meinen Bleistift; dann den Federhalter des Sala… (weiterlesen auf https://podcast-lesung.de/44-kurt-tucholsky-kreuzwortraetsel/)

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(71) Bertha von Suttner »Die Waffen nieder!« (Ausschnitt aus dem ›4. Buch‹)

Rache und immer wieder Rache? Jeder Krieg muß einen Besiegten aufweisen und wenn dieser nur in einem nächsten Krieg Genugtuung finden kann, einem nächsten, der natürlich wieder einen genugtuungheischenden Besiegten schaffen wird – wann nimmt das ein Ende? Wie kann Gerechtigkeit erlangt, wann altes Übel gesühnt werden, wenn als Sühnemittel immer wieder neues Unrecht angewendet wird? Keinem vernünftigen Menschen wird es einfallen, Tintenflecken mit Tinte, Ölflecken mit Öl wegputzen zu wollen – nur Blut, das soll immer wieder mit Blut ausgewaschen werden! Musik: Elisa Demonki

(70) Rainer Maria Rilke »Herbsttag« / Giaime Pintor »Giorno d’autunno«

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. Signore: è tempo. Grande era l’arsura. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, und auf den Fluren laß die Winde los. Deponi l’ombra sulle meridiane, libera il vento sopra la pianura. Befiehl den letzten Früchten voll zu sein; gieb ihnen noch zwei südlichere Tage, dränge sie zur Vollendung hin und jage die letzte Süße in den schweren Wein. Fa’ che sia colmo ancora il frutto estremo; concedi ancora un giorno di tepore, che il frutto giunga a maturare, e spremi nel grave vino l’ultimo sapore. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben. Chi non ha casa adesso, non l’avrà. Chi è solo a lungo solo dovrà stare, leggere nelle veglie, e lunghi fogli scrivere, e incerto sulle vie tornare dove nell’aria fluttuano le foglie. Giaime Pintor (1919 - 1943) studierte Goethe und übersetzte die Werke von Heinrich von Kleist, Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke. Er war Schriftsteller, Übersetzer und Antifaschist. Mit gerade einmal 24 Jahren verlor er sein Leben im 2.Weltkrieg. Lesung Musik: Elisa Demonki

(69) Aesop - Die beiden Frösche

Zwei Frösche, deren Tümpel die heiße Sommersonne ausgetrocknet hatte, gingen auf die Wanderschaft. Gegen Abend kamen sie in die Kammer eines Bauernhofs und fanden dort eine große Schüssel Milch vor, die zum Abrahmen aufgestellt worden war. Sie hüpften sogleich hinein und ließen es sich schmecken. Als sie ihren Durst gestillt hatten und wieder ins Freie wollten, konnten sie es nicht: die glatte Wand der Schüssel war nicht zu bezwingen, und sie rutschten immer wieder in die Milch zurück. Viele Stunden mühten sie sich nun vergeblich ab, und ihre Schenkel wurden allmählich immer matter. Da quakte der eine Frosch: »Quack! Alles Strampeln ist umsonst, das Schicksal ist gegen uns, ich geb's auf!« Er machte keine Bewegung mehr, glitt auf den Boden des Gefäßes und ertrank. Sein Gefährte aber kämpfte verzweifelt weiter bis tief in die Nacht hinein. Da fühlte er den ersten festen Butterbrocken unter seinen Füßen, er stieß sich mit letzter Kraft ab und war im Freien. Klavier: Ulrike Theusner

(68) Kurt Tucholsky »Drei Minuten Gehör!«

Drei Minuten Gehör will ich von euch, die ihr arbeitet – ! Von euch, die ihr den Hammer schwingt, von euch, die ihr auf Krücken hinkt, von euch, die ihr die Feder führt, von euch, die ihr die Kessel schürt, von euch, die mit den treuen Händen dem Manne ihre Liebe spenden – von euch, den Jungen und den Alten – : Ihr sollt drei Minuten inne halten. Wir sind ja nicht unter Kriegsgewinnern. Wir wollen uns einmal erinnern. Die erste Minute gehöre dem Mann. Wer trat vor Jahren in Feldgrau an? Zu Hause die Kinder – zu Hause weint Mutter ... Ihr: feldgraues Kanonenfutter – ! Ihr zogt in den lehmigen Ackergraben. Da saht ihr keinen Fürstenknaben: der soff sich einen in der Etappe und ging mit den Damen in die Klappe. Ihr wurdet geschliffen. Ihr wurdet gedrillt. Wart ihr noch Gottes Ebenbild? In der Kaserne – im Schilderhaus wart ihr niedriger als die schmutzigste Laus. Der Offizier war eine Perle, aber ihr wart nur ›Kerle‹! Ein elender Schieß- und Grüßautomat. »Sie Schwein! Hände an die Hosennaht –!« Verwundete mochten sich krümmen und biegen: kam ein Prinz, dann hattet ihr stramm zu liegen. Und noch im Massengrab wart ihr die Schweine: Die Offiziere lagen alleine! Ihr wart des Todes billige Ware… So ging das vier lange blutige Jahre. Erinnert ihr euch – ? Die zweite Minute gehöre der Frau. Wem wurden zu Haus die Haare grau? Wer schreckte, wenn der Tag vorbei, in den Nächten auf mit einem Schrei? Wer ist es vier Jahre hindurch gewesen, der anstand in langen Polonaisen, indessen Prinzessinnen und ihre Gatten alles, alles, alles hatten – –? Wem schrieben sie einen kurzen Brief, dass wieder einer in Flandern schlief? Dazu ein Formular mit zwei Zetteln ... wer mußte hier um die Renten betteln? Tränen und Krämpfe und wildes Schrein. Er hatte Ruhe. Ihr wart allein. Oder sie schickten ihn, hinkend am Knüppel, euch in die Arme zurück als Krüppel. So sah sie aus, die wunderbare große Zeit – vier lange Jahre… Erinnert ihr euch – ? Die dritte Minute gehört den Jungen! Euch haben sie nicht in die Jacken gezwungen! Ihr wart noch frei! Ihr seid heute frei! Sorgt dafür, dass es immer so sei! An euch hängt die Hoffnung. An euch das Vertraun von Millionen deutschen Männern und Fraun. Ihr sollt nicht strammstehn. Ihr sollt nicht dienen! Ihr sollt frei sein! Zeigt es ihnen! Und wenn sie euch kommen und drohn mit Pistolen –: Geht nicht! Sie sollen euch erst mal holen! Keine Wehrpflicht! Keine Soldaten! Keine Monokel-Potentaten! Keine Orden! Keine Spaliere! Keine Reserveoffiziere! Ihr seid die Zukunft! Euer das Land! Schüttelt es ab, das Knechtschaftsband! Wenn ihr nur wollt, seid ihr alle frei! Euer Wille geschehe! Seid nicht mehr dabei! Wenn ihr nur wollt: bei euch steht der Sieg! – Nie wieder Krieg – ! Theobald Tiger, 1922 Lesung Sound: Elisa Demonki

(67) Johann Wilhelm Ludwig Gleim »An Leukon « (aus ›Neue Lieder‹)

Rosen pflücke, Rosen blühn, Morgen ist nicht heut! Keine Stunde laß entfliehn, Flüchtig ist die Zeit! Trink' und küsse! Sieh, es ist Heut Gelegenheit; Weißt du, wo du morgen bist? Flüchtig ist die Zeit! Aufschub einer guten That Hat schon oft gereut! Hurtig leben ist mein Rat, Flüchtig ist die Zeit! Musik: Ulrike Theusner (»Schmetterling«, komponiert mit 8 Jahren)