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Folge 22: Debütromane: „Über die See“ von Mariette Navarro und „Dieux les Pères“ von Jean-Paul Dumas-Grillet

35m · Littéramours · 15 Apr 10:01

2012 überquerte die Theaterautorin und Lyrikerin Mariette Navarro gemeinsam mit anderen Autoren und Autorinnen auf einem Containerschiff den Atlantik. Plötzlich keinen Vogelschrei mehr zu hören, das Zeitgefühl zu verlieren und sich nurmehr am Licht, an Helligkeit und Dunkel zu orientieren, beschreibt sie als eine tiefe Erfahrung. Mariette Navarro kam mit Notizen zurück, aber erst als die Figur einer Kapitänin Gestalt in ihrem Kopf annahm, bekam sie Lust, eine Geschichte zu erfinden. Eine 20-köpfige männliche Crew bittet die Kapitänin, auf hoher See baden zu dürfen. Zu ihrer eigenen Überraschung willigt sie ein und von dem Augenblick an, verändert sich das Leben aller. Fraglich ist, ob die Schwimmenden sich jemals von dem existenziellen Taumel, der sie in tiefem Wasser ergriff, erholen werden? „Selbst wenn man das Meer seit Jahrhunderten besegelt“, so Mariette Navarro, „bleibt es etwas Unbekanntes. Es löst Träume aus, Fantasien und Ängste.“ Und Wünsche. Glaubwürdigkeit ist kein erzählerisches Gebot in diesem wunderbaren, poetisch hochverdichteten Roman. Jean-Paul Dumas-Grillet ist Fotograf. Galerien und Museen stellen seine Bilder aus, die französische Nationalbibliothek hat Werke für ihre Sammlung angekauft. Immer wieder war er auch bei Filmdreharbeiten beschäftigt. In seinem Debütroman Dieux les Pères erinnert Dumas-Grillet auf spielerische Weise an Kinoszenen, an reale Schauspieler und Regisseure. Die Hauptfigur ist auf der Theaterbühne und am Filmset gescheitert. Übermäßiges Lampenfieber zerstört seine vielversprechende Schauspielerkarriere und die Ehe. Bob Declerq lebt mit seiner kleinen Tochter in einem Pariser Vorort. Der Vollzeitvater hat kaum Geld, der Alltag ist schwierig, bis beide bei einem guten Freund, der ebenfalls mit seiner Tochter lebt, einziehen. Die Rollen sind klar verteilt: Einer schafft das Geld heran, der andere kümmert sich um den Haushalt. Sie gründen „eine Familie der neuen Art, ohne besondere Erwartungen, ohne Eifersucht, ohne sexuelle Ansprüche“. Könnte das Modell scheitern, wenn sich die Und Väter eines Tages wieder in Frauen verlieben? Jean-Paul Dumas-Grillet ist auf der Seite der pragmatischen und lebensklugen Jugend: Die Mädchen sind bereit, mit zwei Vätern, zwei Müttern und zwei biologischen Mütter zusammen zu leben. Dieux les Pères : ein optimistisches, bildstarkes, sehr zeitgemäßes Romandebüt. Mariette Navarro: Über die See . Aus dem Französischen von Sophie Beese. Antje Kunstmann Verlag, München 2022 Jean-Paul Dumas-Grillet: Dieux les Pères , librinova, 2022 Coup de cœur: Christophe Boltanski: Die Leben des Jacob , Aus dem Französischen von Tobias Scheffel, 208 Seiten, Carl Hanser Verlag, München (20.03.2023) Von einem Flohmarktgänger erwirbt eine Pariser Filmproduzentin ein schweres kunstledernes Album. Hineingeklebt sind 369 Passbilder, die ein junger Mann zwischen 1970 und 1974 in einer Fotokabine von sich aufgenommen hatte. Glattes Gesicht, perfekte Zahnreihen, das breite Lächeln wirkt ein bißchen zu gewollt. Schnell wird die Lust des Unbekannten am Rollenspiel augenfällig. Mal mimt er einen Ganoven, mal einen Liebhaber, Elvis mit Tolle so gut wie den melancholischen Buster Keaton oder einen Agenten mit dunkler Brille und Anzug. Eine spannende Geschichte witternd, vertraut die Produzentin dem Journalisten und Schriftsteller Christophe Boltanski das Album an und beauftragt ihn, etwas über den Fremden herauszufinden und ein Filmexposé zu schreiben. Ungeduldig entzieht sie ihm nach einem Jahr den Auftrag. Der Weg zum Buch ist frei. Die autobiographischen Romane „Das Versteck“ und „Le guetteur“ bezeugen, wie findig, beharrlich und einfühlsam Christophe Boltanski Spurensuche betreibt. Sein Versuch, „von einem Oberkörper ausgehend, ein ganzes Leben rekonstruieren“, beginnt in einem „zwischen Fahrkartenschalter und Rolltreppen“ platzierten Fotoautomaten. Er inspiziert ihn und tritt in einen inneren Dialog mit dem Unbekannten, der seinen Namen, Jacob B’chiri, auf der Rückseite der Fotos hinterlassen hatte und im Falle seines Todes darum bat, die israelische Botschaft in Paris zu kontaktieren. Was nur will der Fremde durch die methodische, zwanghaft wirkende Anhäufung seiner Abbilder ausdrücken – oder verbergen? Boltanski notiert: „Seine Manie, seinen Namen und sein Gesicht zu sammeln, erzeugte ein merkwürdiges Gefühl von Abwesenheit“. Und die Adressangaben unter den Passfotos, mit Etiketten der israelischen Fluggesellschaft El Al versehen, erwecken den Eindruck eines wirren Durcheinanders. Der Autor rekonstruiert eine komplizierte Route, die in 24 Etappen von Rom nach Paris, Marseille, Lyon, in die Schweiz und nach Israel führt. Zeitweilig hält er es für möglich, dass B’chiri für den israelischer Geheimdienst arbeitete. Boltanski macht Menschen ausfindig, bei denen Jacob B’chiri kurzzeitig wohnte und will verstehen, warum B’chiri, der 1948 auf der tunesischen Insel Djerba geboren wurde, nach dem plötzlichen Tod des Vaters seine Heimat nie wieder aufsuchen wollte. Christophe Boltanski hat jahrzehntelang als Reporter im Nahen und Korrespondent in London gearbeitet. Er weiß, dass Leser nicht mit Vermutungen abgespeist werden wollen, sondern Fakten verlangen. Gut dosiert unterfüttert er die Schilderung seiner „Schnitzeljagd“ mit Zeitgeschichte. Er findet Jacobs Kinder in Paris und trifft Mitglieder der Familie B’chiri in Israel. Er entdeckt, dass Jacob als Soldat der Golani-Brigade den Sechs-Tage-Krieg 1967 nur knapp überlebt hatte, dass er danach Kunst in Marseille und Architektur in Paris studierte, aber nie etwas baute, sondern Erfüllung fand im schweren Amt der chevra kadisha, der jüdischen Beerdigungsbruderschaft – bis diese ihn entließ und er sich von allen und allem zurückzuziehen begann. „Das herrenlose Album“, das Christoph Boltanski vor Jahren in die Hände bekam, war für ihn zunächst nichts anderes als eine Todesanzeige. Mit großer Einfühlsamkeit ist es ihm gelungen, ein ganzes, 66 Jahre währendes Leben mit seinen Abgründen und Leerstellen, Verrücktheiten und Glücksmomenten wiedererstehen zu lassen. An uns ist es, sich vorzustellen, was diese Rekonstruktionsleistung dem Autor bedeutet. Kommt er doch aus einer Familie, die dem Tod, wie er sagt, alles verweigerte. Für seine Angehörigen gab es weder einen Trauerzug noch irgendeine Form von Gedenken. Er, der bei den Großeltern aufwuchs, kennt deren Grabstätte nicht. Auf Jacob B’chiris Grabstein in Be’er Sheva hat er Steine legen können.

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Zwischenruf – Vergesst sie nicht!

Eine gelbe Schleife um das Handgelenk, um einen Baum oder an ein Brückengeländer zu binden und so Verbundenheit mit abwesenden, vermissten, geliebten Menschen auszudrücken, hat eine lange Tradition. Bei einem Besuch im März hat die in Frankreich und Israel beheimatete Sängerin, Theaterregisseurin, Lyrikerin und Anthropologin Miléna Kartowski-Aïach mir eine Spule mit 32 Metern gelbem Band gegeben und Texte vorgelesen, in denen sie das Leben von vier Geiseln aufscheinen lässt, die seit dem 7. Oktober 2023 von der Hamas festgehalten werden. Ich habe Milénas Stimme aufgenommen. Die Schlichtheit der biographischen Miniaturen ist bewegend. Das in wenigen Sätzen aufscheinende Wesen und Wirken der ihrer Freiheit beraubten, verletzten und gequälten Frauen und Männer berührt. Hoffen wir, dass sie noch leben. Hoffen wir, dass alle Geiseln befreit werden. Dass das Sterben in Gaza aufhört, in der Westbank, im Norden Israels, im Süden des Libanon. Dass die gewachsenen, von Individuen geknüpften israelisch-palästinensischen Bindungen halten, dass es möglich bleibt, Gespräche zu führen, die sowohl die Geiseln wie auch die Opfer in Gaza, die traumatisierten Israelis wie die verlassenen, unter der Hamas leidenden Palästinenser einschließen. „Was uns jenseits aller nationalen und religiösen Zuschreibungen verbindet“, sagt der aus Berlin nach Israel zurückgekehrte Musiker und Publizist Ofer Waldman im Gespräch mit der Autorin und Freundin Sasha Marianna Salzmann, „das ist der Schmerz, ist die Trauer um eine Welt, die vorbei ist“. Platforme: Erschütterungen einer jüdischen Existenz Sasha Marianna Salzmann und Ofer Waldman: Gleichzeit. Briefe zwischen Israel und Europa. Suhrkamp Verlag 2024

Hors-série: Ne pas les oublier

Nouer un ruban jaune autour du poignet, autour d'un arbre ou la balustrade d'un pont pour exprimer son attachement aux personnes absentes, disparues, aimées, a une longue tradition. Lors d'une visite Miléna Kartowski-Aïach, chanteuse, metteur en scène de théâtre, poète et anthropologue basée en France et en Israël, m'a donné une bobine de 32 mètres de ruban jaune et a lu des textes qu’elle a écrit pour faire apparaître la vie d’otages détenus par le Hamas depuis le 7 octobre. Je les ai enregistrés. La simplicité de ces miniatures biographiques est émouvante. La nature de ces femmes et de ces hommes privés de liberté, blessés et torturés touche. Espérons qu'ils/qu’elles soient encore en vie. Espérons que tous les otages seront libérés. Que les morts cessent à Gaza, dans le nord d'Israël, dans le sud du Liban. Que les liens israélo-palestiniens tissés par les individus tiennent, qu'il reste possible d'avoir des échanges qui incluent aussi bien les otages que les victimes de Gaza, les Israéliens traumatisés et les Palestiniens abandonnés et souffrant du Hamas. "Ce qui nous unit au-delà de toutes les attributions nationales et religieuses", remarque le musicien et publiciste Ofer Waldman (retourné avec sa famille en Israël après avoir vécu plusieues années à Berlin) dans un entretien avec l'autrice-amie Sasha Marianna Salzmann, "c'est la douleur, c'est le deuil d'un monde qui s’est éteint et qui est passé". Plateforme: Miléna Kartowski-Aïach parle de son rapport à l’hébreu Séismes d’une existence juive

Folge 30: Das schillernde, unvollkommene Leben eines schwarzen Schwans – ein Gespräch mit dem Schauspieler Michael Evers über seinen Roman „Vinck. Jean-Marie Vinck“

Michael Evers war 23 als er 1969 ans Zürcher Theater am Neumarkt geholt wurde. Er studierte Germanistik, setzte seine Schauspielkarriere an Bühnen in Basel, Köln, Bonn, Hamburg und Berlin fort, nahm Fernsehrollen an und war jahrzehntelang ein viel gefragter Sprecher in Hörspiel-, Feature- und Audiobuchproduktionen. 2016 publizierte er seinen Debütroman Ortsfremde, 2023 den Roman Vinck. Jean-Marie Vinck.  Hans Finkelstein wuchs in Wien auf. Sein Vater war als Kleinkind mit den Eltern nach Schanghai fliehen, kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg nur widerwillig nach Österreich zurück, schlug dann aber eine Karriere als Diplomat ein. Hans‘ mütterliche Familie konnten sich nach Palästina retten. Seine Mutter wurde Israelin und eine unglückliche Frau in Wien. Hans rebelliert gegen das Schweigen seiner Eltern und Großeltern über die Entbehrungen des Exils, über Verwandte, die in Lagern ermordet wurden, und über Kompromisse, die sie als Rückkehrer eingingen. Sie blieben dienstbar in einer Gesellschaft, die ihre Ressentiments gegen Juden nicht verhehlte. Hans „emigrierte“ nach Paris, französisierte seinen Namen und begann als Modedesigner erfolgreich mit Kleidern Geschichten zu erzählen - bis eine Krise ihn, den Spieler, der die Gabe besitzt, „der jeweils Andere zu sein“, in eine existenzielle Krise stürzt. Michael Evers verhandelt in seinem Roman Grundfragen: Was macht mich im Kern aus? Wo komme ich her und wo gehöre ich hin? Wo will ich sein? Was habe ich falsch gemacht und was richtig? Welche Fehler lassen sich gutmachen? Er erzählt von Generationenkonflikten; von Menschen, die ins Exil gezwungen wurden und zurückkommen in ihr Heimatland, das die Vertriebenen nur unwillig aufnimmt; von Kindern, die sich vom Leben der Eltern und Großeltern ausgeschlossen fühlen; von Liebe, Verblendung und Verantwortungslosigkeit, von den Versuchen, umzukehren, vom Scheitern, vom sich aussöhnen mit dem, was man ist. „Am Ende“, so Michael Evers im Gespräch, „bleibt Vinck nichts anderes übrig, als zu sagen, so war es, so ist es passiert und mich da jetzt noch einmal einzubringen, das führt zu keinem Ziel“. Dem Theatermacher und Menschenkenner George Tabori fühlt er sich verbunden und Samuel Beckett, der wusste, dass wir fortwährend „ scheitern, immer scheitern, wieder scheitern, besser scheitern“. Bücher von Michael Evers:

  • Jean-Marie Vinck, tredition, 2023
  • Ortsfremde, Amazon, ISBN 978-1534789159
Hörbücher (Auswahl)
  • Franz Kafka: Die Romane – Der Verschollene, Der Prozess, Das Schloss. Ungekürzte Lesungen mit Peter Simonischek, Peter Matić und Michael Evers (4 mp3-CDs)
  • Susanne Krahe: Karfreitag der Henker
Hörspiele (Auswahl)
  • David Grossman: Eine Frau flieht vor einer Nachricht. Hörspiel von Norbert Schaeffer mit Martina Gedeck, Kathrin Angerer, Michael Evers u.a.
  • Gustave Flaubert: Salambo. Regie Udo Schareck. Mit Anna Thalbach, Hans Peter Hallwachs, Michael Evers u.a.
  • Alessandro Manzoni: Die Verlobten. Regie Claudia Johanna Leist. Mit Michael Evers, Sylvester Groth, Rosemarie Fendel u.a.

Épisode 30: La vie éblouissante et imparfaite d’un cygne noir – un entretien avec l’acteur Michael Evers sur son roman „Vinck. Jean-Marie Vinck“

Michael Evers avait 23 ans lorsqu'il a été engagé au Zürcher Theater am Neumarkt en 1969. Il a fait des études de lettres modernes, a poursuivi sa carrière d'acteur sur les scènes de Bâle, Cologne, Bonn, Hambourg et Berlin, a accepté des rôles à la télévision et a été pendant des décennies un narrateur très apprécié dans les productions de pièces radiophoniques, de reportages et de livres audio. En 2016, il a publié son premier roman Ortsfremde, et en 2023 le roman Vinck. Jean-Marie Vinck. Dans son roman, Michael Evers aborde de questions essentielles : qu'est-ce qui me définit fondamentalement? D'où est-ce que je viens et où est-ce que j'appartiens? Où est-ce que je souhaite être? Qu'est-ce que j'ai fait de mal et de bien? Y-a-t-il des erreurs que je puisse réparer? Il parle de conflits de générations; de personnes contraintes à l'exil et revenant dans leur pays d'origine, qui ne les accueille qu'à contrecœur; d'enfants qui se sentent exclus de la vie de leurs parents et de leurs grands-parents; d'amour, d'aveuglement et d'irresponsabilité, d'échecs et des efforts de se réconcilier avec ce que l'on est. "A la fin", déclare Michael Evers lors de l'entretien, "Vinck devra accepter que les choses soient telles qu’elles sont. S’engager davantage ne mènera à rien". Il se sent proche de George Tabori, homme de théâtre et fin connaisseur des hommes, qui savait que nous "échouons continuellement, échouons toujours, échouons encore, échouons mieux". Livres de Michael Evers:

  • Jean-Marie Vinck, tredition, 2023
  • Ortsfremde, Amazon, ISBN 978-1534789159

Folge 29: Der blaue Koffer der Familie Samosch. David Dambitsch erinnert an die Geschichte einer jüdischen Buchhändlerfamilie aus Breslau

Seit vier Jahrzehnten dokumentiert der Hörfunkjournalist und Sachbuchautor David Dambitsch Lebenswege und Lebensleistungen von Menschen, die im 20. Jahrhundert durch den Vernichtungswillen der Nationalsozialisten und ein kulturell tief verwurzeltes Ressentiment gegen Juden aus ihren vertrauten Lebenszusammenhängen gerissen, vertrieben und umgebracht wurden. Er tut dies engagiert und mit großer Einfühlsamkeit. David Dambitsch will verstehen, aufklären, bezeugen und bewahren. Seine jüngste dokumentarische Erzählung, die das Schicksal der in Breslau beheimateten, mit ihm verwandten jüdischen Buchhändlerfamilie Samosch nachzeichnet, lässt ahnen, wie viel Beharrungs- und Durchsetzungsvermögen der heute 65 Jahre alte Autor besitzt, denn trotz fehlender Kooperationsbereitschaft seitens amtlicher Stellen erwirkte er Zugang zu Informationen, die langlebige Lügen und verdeckte Wahrheiten enthüllen. Und dennoch – auch das ist Ausdruck seiner Redlichkeit – räumt er im Vorwort seines Buches ein, dass trotz jahrzehntelanger Recherchen manches offenblieb: „Es waren wirre Zeiten“. David Dambitschs Vater war es gelungen, während des Zweiten Weltkriegs in Berlin unterzutauchen. Wil Dambitsch, der bei Kriegsende 19 Jahre war, erzählte dem Sohn „von auf der Flucht erschossenen Freunden, von Hunger, Angst und Versteck. Vieles wurde nur angedeutet, rutschte ihm eher heraus, als dass er es wirklich beschrieb“. Als Jugendlicher beschloss der Nachgeborene, Lücken zu füllen und die persönliche Geschichte – wie der niederländische Rabbiner Edward van Voolen im Vorwort zu Der blaue Koffer der Familie Samosch festhält – als Teil eines größeren Ganzen zu begreifen und zu erzählen. Die Geschichte seiner in vielen Ländern verstreut lebenden Familie sowie frühe Begegnungen mit Angehörigen jener Offiziere, die Hitler am 20. Juli zu töten versuchten, die Freundschaft mit dem evangelischen Theologen und NS-Gegner Helmut Gollwitzer und der deutsch-israelischen Schriftstellerin Inge Deutschkron prägten David Dambitschs Weg. Interviews mit international renommierten Historikern vertieften das Wissen um „verschüttetes Erbe“ und fortwirkende Geschichtsklitterungen. Anhand von persönlichen Erinnerungen, Briefen, Fotografien, Zeitungsartikeln, Archivalien und geschichtlich-literarischen Zeugnissen (etwa von Hans Sahl, Alfred Kerr, Norbert Elias oder Fritz Stern) rekonstruiert und reflektiert David Dambitsch in Der blaue Koffer der Familie Samosch auf eindrucksvolle Weise die Geschichte von fünf Cousins aus zwei jüdischen Familien. Sie waren um ihre Existenzgrundlagen, teilweise ihr Leben beraubte „moderne Europäer“, die – mit den Worten Edward van Voolens - „vergeblich darauf gehofft hatten, dass das Versprechen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auch für sie gelten würde“.   Bücher von David Dambitsch:

  • Der blaue Koffer der Familie Samosch. Briefe und Erinnerungen. 208 S., Hardcover mit Schutzumschlag, s/w Abbildungen, Marix Verlag, Wiesbaden, 2023
  • Im Schatten der Shoah : Gespräche mit Überlebenden und deren Nachkommen, PHILO Verlag, Berlin/Wien 2002
Hörbuch-CDs:
  • “Kraft ist das, was ich brauche…”. Käthe Kollwitz und ihre Familie. Käthe Kollwitz-Museum und Deutschlandfunk Kultur, Berlin, 2020
  • Auf den Einzelnen kommt es an. Michael Blumenthal und sein Lebenswerk. Membran Music Ltd. und Deutschlandfunk, Hamburg, 2011  
  • Innen und Aussen: Der Historiker Saul Friedländer, Membran Music Ltd. und Deutschlandfunk, Hamburg, 2010
  • Weil ich überall auf der Welt zuhause bin. Das Leben des Berliner Philharmonikers Hellmut Stern. Mit Erinnerungen von Daniel Barenboim. AirPlay-Audio und Deutschlandfunk, München, 2007
  • „Eine Dame von Welt“. Die politische Journalistin Margret Boveri (1900-1975). Mit Erinnerungen von Richard Freiherr von Weizsäcker, Egon Bahr, Hans Magnus Enzensberger, Joachim C. Fest, Uwe Johnson und Nicolas Becker. AirPlay-Audio und Deutschlandradio Berlin, München, 2005     
  • Stimmen der Geretteten. Berichte von Überlebenden der Shoah. radio bremen, Deutschlandradio Berlin, NDR, Der Audio Verlag, Bremen, 2002
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